Ungleichheit bei den Einkommen sinkt, zunehmende Lohnspreizung gestoppt
Ungleichheit bei den Einkommen sinkt, zunehmende Lohnspreizung gestoppt
Geringere Arbeitslosigkeit senkt Armutsrisiko – Zimmermann: „Wer Armut vermeiden will, muss auf Bildung und Reformen setzen“
Die Ungleichheit bei der Verteilung der Markteinkommen ist im Jahr 2006 erstmals seit dem Mauerfall zurückgegangen. Nicht weiter zugenommen hat auch die Lohnspreizung – also das Auseinanderdriften hoher und niedriger Löhne. Gleichzeitig ist das Armutsrisiko zurückgegangen – das erste Mal in den vergangenen zehn Jahren. Hauptursache ist der deutliche Rückgang der Arbeitslosigkeit seit Beginn des letzten Konjunkturaufschwungs, der auch mit den Wirkungen der Arbeitsmarktreformen zusammenhängt. Dies berichtet das DIW Berlin in zwei heute veröffentlichten Studien.
Parallel zum Abbau der Arbeitslosigkeit seit 2006 gab es auch bei der Art der Beschäftigung positive Entwicklungen: So hat der Niedriglohnsektor nicht weiter an Bedeutung gewonnen. Der Anteil der Arbeitnehmer in diesem Sektor blieb zwischen 2006 und 2007 konstant.
„Unsere Untersuchungen zeigen: Mehr Wachstum hat seit Beginn des Aufschwungs mit den Arbeitsmarktreformen zu mehr Beschäftigung und damit zu weniger Armut und weniger Ungleichheit geführt“, sagte DIW-Präsident Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann bei der Vorstellung der beiden Studien.
Die DIW-Studien beruhen auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels SOEP. Für diese Langzeiterhebung werden seit 25 Jahren jährlich mehr als 10.000 Haushalte befragt. Die heute veröffentlichten Untersuchungen basieren auf den Daten der neuesten auswertbaren, 2007 durchgeführten Erhebung. Da Statistiken zur Verteilung von Haushaltseinkommen immer nur mit zeitlichen Verzögerungen vorliegen, kann die Frage nach der jüngsten Entwicklung nicht beantwortet werden.
Entscheidend ist der Abbau der Arbeitslosigkeit
Die Analysen des DIW Berlin liefern auch eine neue Grundlage für die Debatte über die jüngsten Arbeitsmarktreformen. Weniger Armut und weniger Ungleichheit sind mit Reformen vereinbar. Dabei bleibt zunächst offen, ob es sich um eine dauerhafte Trendumkehr handelt oder nur um die Effekte einer guten Konjunktur. Zur Trendumkehr ist ein weiteres Absinken der Sockelarbeitslosigkeit, die nicht konjunkturelle Ursachen hat, und zu der insbesondere die Langzeitarbeitslosigkeit zählt, notwendig: Kein anderer Faktor hat einen derart großen Einfluss auf Armut und die Ungleichheit der Einkommen wie die Arbeitslosigkeit.
Über Jahrzehnte hat sich die Sockelarbeitslosigkeit sukzessive aufgebaut, weil die Erwerbslosigkeit im Aufschwung nicht stärker abnahm, als sie im darauf folgenden Abschwung wuchs. Damit einher ging eine wachsende Ungleichheit bei den Einkommen – sowohl bei den durch Erwerbstätigkeit oder Vermögen erzielten Markteinkommen als auch bei den verfügbaren Einkommen, in denen auch die Sozialtransfers enthalten sind. Dieser Trend ist jedoch seit dem 2006 einsetzenden Beschäftigungsaufbau gebrochen, da die Beschäftigung kräftig expandierte. Mit den Arbeitsmarktreformen hat der Aufschwung mehr für die Verteilung tun können, da er Geringqualifizierte verstärkt in Arbeit brachte.
Niedriglohnsektor wächst nicht mehr
Eine Neuentwicklung gab es auch bei der Lohnspreizung, also der Spanne zwischen hohen und niedrigen Einkommen: Der jahrelange Trend einer zunehmenden Lohnspreizung wurde gestoppt. Seit Mitte der 90er Jahre hatte die Spanne der Arbeitnehmereinkünfte immer mehr zugenommen. Ein immer größerer Anteil der Arbeitnehmer entfiel auf den Niedriglohnsektor. Diese Entwicklung wurde beim jüngsten konjunkturellen Beschäftigungsaufbau beendet. Dabei gibt es Unterschiede zwischen Ost und West: Bei den Arbeitnehmern in den alten Bundesländern hat die Lohnungleichheit nicht weiter zugenommen. In Ostdeutschland ist sie sogar gesunken.
Auch der Anteil der Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor blieb nach den Daten des SOEP zwischen 2006 und 2007 konstant. Wichtig in Zusammenhang mit der Mindestlohndebatte ist, dass der Anteil der Arbeitnehmer mit Löhnen unterhalb der aktuell diskutierten Lohnuntergrenzen von 4,50 Euro, 7,50 Euro oder 8,00 Euro ebenfalls nicht gestiegen ist.
Nicht nur aus verteilungspolitischer Sicht problematisch bleibt indes die weiterhin hohe Betroffenheit von Arbeitslosigkeit bezogen auf einzelne Privathaushalte. Die individuell gemessene offizielle Arbeitslosenquote verdeckt, dass weitere Haushaltsmitglieder direkt oder indirekt von der Arbeitslosigkeit eines Mitglieds berührt sein können. Hier zeigt sich: Mehr als 20 Prozent aller Personen in Haushalten mit Personen im Erwerbsalter (20-60 Jahren) sind von Arbeitslosigkeit mindestens eines Haushaltsmitglieds betroffen.
Dauerarmutsrisiko weiterhin hoch
Aus sozialpolitischer Sicht ist nicht allein das Ausmaß des Armutsrisikos relevant. Wichtig ist auch die Mobilität der Einkommensarmen. Mit anderen Worten: Gelingt es ihnen, den armutsgefährdeten Einkommensbereich wieder zu verlassen? Und wie groß ist das Ausmaß an neu hinzu gekommener Armut im Vergleich zum Vorjahr?
Hier zeigen die SOEP-Daten zwei gegenläufige Entwicklungen: Einerseits konnten erstmals seit rund zehn Jahren wieder deutlich mehr Menschen den armutsgefährdeten Bereich verlassen als „neue Arme“ hinzukamen. Andererseits blieb der Anteil der dauerhaft Armutsgefährdeten zwischen 2006 und 2007 unverändert – und er ist nach wie vor weit höher als im letzten Jahrzehnt. So lebte in den 90er Jahren ein stabiler Anteil von weniger als acht Prozent in mindestens zwei aufeinander folgenden Jahren unter Armutsrisiko. Nach der Jahrtausendwende stieg dieser Anteil jedoch auf mehr als zwölf Prozent an.
„Wer das Armutsrisiko reduzieren will, muss bei der Bildung ansetzen und an den Arbeitsmarktreformen festhalten“
Bei der Arbeitslosigkeit setzen auch die wirtschaftspolitischen Empfehlungen des DIW Berlin an. Hierbei setzt das Institut weniger auf Umverteilung als auf Bildung. „Wer das Armutsrisiko reduzieren will, muss Arbeitslosigkeit vermeiden und deshalb an den Arbeitsmarktreformen festhalten,“ stellte DIW-Präsident Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann fest. „Von Langzeitarbeitslosigkeit wiederum sind vor allem Menschen ohne Schul- oder Berufsabschluss betroffen: Hier müssen wir ansetzen, wenn wir eine nachhaltige Wirkung erzielen wollen.“
Das DIW Berlin sprach sich gegen eine pauschale Erhöhung von Sozialleistungen und die Einführung von Mindestlöhnen als Instrument der Armutsvermeidung aus. „Niedrige Löhne sind das Ergebnis von Marktprozessen“, sagte DIW-Präsident Zimmermann. „Wir sollten das Armutsproblem aber dort anpacken, wo es entsteht – und das ist eher bei der Bildung. Denn auf der einen Seite werden Fachkräfte knapp und auf der anderen Seite tragen Geringqualifizierte ein sehr hohes Arbeitslosigkeits- und somit auch Armutsrisiko.“
Zimmermann plädierte dafür, den dauerhaft von Armut bedrohten Menschen mehr politische Aufmerksamkeit zu widmen. Die Betroffenen bräuchten die Chance, den Bereich der Armutsbedrohung auch aus eigener Kraft möglichst schnell wieder zu verlassen – und nicht primär staatliche Transfers. „Deshalb müssen wir insbesondere den Jüngeren unter den heute sozial und ökonomisch Schwachen einen besseren Zugang zu Lebenschancen geben,“ sagte Zimmermann. „Hierzu müssen auch die Angebote bei der frühkindlichen Betreuung verbessert werden.“ Der Bildungserfolg dürfe auch nicht mehr so stark wie bisher vom sozialen Hintergrund abhängen.
Hintergrund Armutsrisiko:
– Das Armutsrisiko ist 2007 erstmals seit zehn Jahren zurückgegangen. Die Quote der Haushalte mit einem „Armutsrisiko“ war aber mit 16,5 Prozent immer noch deutlich höher als zu Beginn 90er Jahre. Damals lag sie bei rund 13 Prozent.
– Arbeitslosigkeit ist der wichtigste Faktor für das Armutsrisiko: Je stärker ein Haushalt von Arbeitslosigkeit betroffen ist (gemessen an der Zahl der Monate in Arbeitslosigkeit), desto größer ist das Armutsrisiko.
– Definition: Von einem Armutsrisiko sprechen Wissenschaftler und auch die EU-Kommission bei Haushalten, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens verfügen. Für eine alleinstehende Person lag diese Grenze 2007 bei weniger als 890 Euro. Für ein Paar mit zwei Kindern lag der Betrag 2007 bei 1.871 Euro im Monat.
Hintergrund: Einkommensentwicklung
– Die Einkommen der Haushalte in Deutschland haben sich von 1992 bis 2007 nur geringfügig erhöht. So stiegen die Haushaltsnettoeinkommen in diesem Zeitraum preisbereinigt um lediglich 11 Prozent, von 17.009 Euro auf 18.932 Euro. Trotz der guten Konjunktur in den zurückliegenden Jahren stagnieren die Einkommen derzeit vor allem wegen der hohen Teuerung.
– Die Lohnquote – also der Anteil der Einkommen aus abhängiger Be-schäftigung am Volkseinkommen – ist seit der Jahrtausendwende zurückgegangen. 2007 sank sie von 72 Prozent auf unter 65 Prozent.
– Stark gestiegen sind hingegen die Vermögenseinkommen der privaten Haushalte. Ihr Anteil am Volkseinkommen stieg zwischen 2000 und 2007 von 14 Prozent auf 20 Prozent. Dieser Anstieg ist allerdings nicht ausschließlich als Ausdruck einer sich öffnenden Schere zwischen „Arm und Reich“ zu werten: Auch der steigende Anteil alter, nicht mehr erwerbstätiger Menschen, die überdurchschnittlich oft auf Einkommen aus Vermögen zurückgreifen können, spielt hierbei eine Rolle.
Zur Methode:
Mit den heute veröffentlichten Studien wirft das DIW Berlin einen umfassenden Blick auf die Einkommensverteilung, das Armutsrisiko und den Niedriglohnsektor. Grundlage hierfür sind die Daten des Sozio-oekonomischen Panels SOEP, einer seit 25 Jahren laufenden Langzeitbefragung von mehr als 10.000 Haushalten, die vom DIW Berlin in Zusammenarbeit mit TNS Infratest Sozialforschung, München, durchgeführt wird. Die aktuellen Daten beziehen sich auf die neueste auswertbare, 2007 durchgeführte Befragung. Hierbei wurden die Einkommensverhältnisse des Jahres 2006 erhoben.
Niedrigere Arbeitslosigkeit sorgt für weniger Armutsrisiko und Ungleichheit. Von Joachim R. Frick und Markus M. Grabka.
Jahrelanger Trend zunehmender Lohnspreizung gestoppt. Von Karl Brenke.
In: Wochenbericht des DIW Berlin 38/2008.
Außerdem im Wochenbericht:
Publizieren im Elfenbeinturm? Wann die Öffentlichkeit an akademischen Rankings interessiert sein muss. Kommentar von Klaus F. Zimmermann.
Renate Bogdanovic
Pressestelle
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
German Institute for Economic Research
Mohrenstraße 58
10117 Berlin
Tel. +49-30-897 89 249
Fax +49-30-897 89 119
mailto:presse@diw.de
338577