‚Deutsche Verkehrspolitik muss sich weiter anstrengen‘

„Deutsche Verkehrspolitik muss sich weiter anstrengen“

In Sachen umweltschonender Verkehr ist Deutschland den USA noch weit voraus. Die Trends geben allerdings Anlass zu Besorgnis

In Sachen Verkehrspolitik ist Deutschland den USA weit voraus. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert besser, die Deutschen fahren weniger, sparsamer und klimafreundlicher – so die landläufige Vorstellung. Und sie entspricht auch den Tatsachen. Doch die Trends für die künftige Verkehrsentwicklung in Deutschland sind alles andere als eindeutig: In zentralen Punkten wie Fahrleistung, Autobesitz oder ÖPNV-Anteil könnte sich Deutschland den USA weiter annähern. Dies würde konkret bedeuten: die Zunahme von Autobesitz und Autonutzung, ein Anstieg der Wegelängen und der Wegehäufigkeit je Person und ein Rückgang des Anteils der Wege, die zu Fuß oder mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt werden. Dies zeigt eine jetzt veröffentlichte Studie der Rutgers University, Virginia Tech und des DIW Berlin im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums. Aufgabe der Studie war es zu erforschen, weshalb trotz vieler Übereinstimmungen in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht das Verkehrsverhalten in Deutschland und den USA so unterschiedlich ist. Darauf aufbauend untersuchten die Wissenschaftler, inwieweit die Mobilitätsstrukturen in den USA einen Blick in die Zukunft Deutschlands bieten. Hieraus sollten Schlussfolgerungen für die Politik und die räumliche Planung gezogen werden. Auf der Grundlage der nationalen Mobilitätserhebungen „NHTS“ in den USA und „Mobilität in Deutschland“ werden die zentralen Unterschiede zwischen beiden Ländern differenziert dargestellt:

On the Road: Zahlen und Fakten zum Verkehrsverhalten

25 Jahre Vorsprung: Obwohl sich über die Jahrzehnte der Abstand in der Motorisierung zwischen den beiden Ländern verringert hat, entspricht die heutige Ausstattung deutscher Haushalte mit Fahrzeugen etwa der in den USA vor 30 Jahren. Dies unterstreicht die wesentlich frühere und stärkere Verbreitung des Automobilbesitzes in den USA. Immerhin: Obwohl in den vergangenen 30 Jahren der Anteil des Autos am Verkehr in Deutschland stärker zugenommen hat, benutzen Deutsche das Auto heute für einen geringeren Anteil ihrer Wege als die Amerikaner vor 30 Jahren.

Haushalte ohne Auto: In den USA hatten 1969 21 Prozent der Haushalte kein Auto, 2001 nur noch 8 Prozent. In Deutschland fiel der Anteil autoloser Haushalte von 38 Prozent 1976 auf 19 Prozent im Jahr 2002. Zweit- und Drittwagen: Haushalte mit mehreren Autos gibt es in Amerika doppelt so häufig wie in Deutschland (60 Prozent/27 Prozent). Fuß und Fahrrad, Bahn und Bus: Im Gegensatz zur USA kann sich der Verkehr abseits vom Auto in Deutschland weiter behaupten. Die Anteile an allen Wegen liegen aktuell bei 23 Prozent Fußwegen, acht Prozent öffentlicher Verkehr und neun Prozent Wege mit dem Fahrrad. Damit ist in Deutschland der Anteil der „Konkurrenten“ des Autos am Verkehrsaufkommen dreimal höher als in den USA.

Die Bürger der USA legen fast ein Fünftel mehr Wege mit über zwei Drittel höheren Tagesdistanzen zurück. Obwohl der Kraftstoff deutlich billiger ist, verwenden die US-Haushalte einen deutlich höheren Anteil ihres Konsumbudgets für Verkehrszwecke (fast ein Fünftel, deutsche etwa ein Siebtel).

Die Ergebnisse der Rutgers/DIW-Studie klingen folglich zunächst beruhigend:

In Sachen Umweltverträglichkeit des Verkehrs ist Deutschland den USA weit voraus. So ist zwar seit 1970 in beiden Ländern die pro Kopf zurückgelegte Autonutzung um mehr als 50 Prozent gestiegen. Doch der Abstand zwischen beiden Ländern ist enorm: So legen die Amerikaner pro Jahr durchschnittlich rund 24 000 Kilometer im Auto zurück, die Deutschen dagegen „nur“ etwa 11 000 Kilometer (entspricht der Distanz Berlin-Jakarta/Indonesien).

Ein weiterer Unterschied: Während in den USA die Autonutzung seit 1970 bis vor kurzem nahezu ungebremst anstieg, ist in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren eine Abflachung dieses Trends zu verzeichnen. So stieg die Zahl der Autokilometer pro Person in Deutschland zwischen 1995 und 2005 nur um sechs Prozent, in den USA aber um zwölf Prozent.

Ein Fazit lautet also: Deutschland hatte zwar ein ähnliches Wachstum von Autobesitz und -nutzung wie die USA, war allerdings erfolgreicher in der Begrenzung des Autoverkehrs und vor allem in der Erhaltung des öffentlichen Verkehrs als bedeutendem Verkehrsträger. Allerdings zeigen die Analysen auch, dass weitgehend demographisch bedingte Effekte für Deutschland noch eine größere Steigerung der Automobilität bringen könnten und sich damit auch in Deutschland die bisher in beiden Ländern wesentlichen Trends fortsetzen:

die Zunahme von Autobesitz und Autonutzung,

ein Anstieg der Wegelängen und der Wegehäufigkeit je Person,

ein Rückgang des Anteils der Wege, die zu Fuß oder mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt werden.

Das Ausmaß dieser Veränderungen ist aber auch gestaltbar, wenn man ein nachhaltiges Verkehrssystem anstrebt. Und wer hier politisch gegensteuern will, muss also wissen: Was unterscheidet und was verbindet Deutschland und die USA verkehrspolitisch? Welche Trends sind bei der Verkehrsentwicklung zu erwarten?

„Wir arbeiten gegen den Trend“

„Natürlich gibt es immense Unterschiede zwischen den USA und Deutschland,“ fasst Studienmitautor Dr.-Ing. Uwe Kunert die Ergebnisse zusammen. „Aber wir kommen an dem zentralen Befund nicht vorbei: In beiden Ländern nähert sich das Verkehrsverhalten immer stärker einem vom Auto abhängigen Verkehrssystem an.“

„Man sollte nicht dem Irrglauben erliegen, ein umweltfreundlicherer Verkehr in Deutschland sei allein das Ergebnis guter Verkehrspolitik,“ so die Interpretation von DIW-Experte Kunert. Die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland bedeuteten keine Heiligsprechung der deutschen Verkehrspolitik: „Zum großen Teil sind strukturelle Faktoren entscheidend – also das, was mit der Verkehrspolitik selbst wenig zu tun hat: Hätten wir in Deutschland nicht ein höheres Führerscheinalter, mehr Senioren, mehr Arbeitslose und weniger berufstätige Frauen als in den USA, und wäre Deutschland weniger dicht besiedelt, dann wäre der Autoanteil am Verkehr noch viel höher.“

Eine ähnliche Schlussfolgerung zieht auch Mitautor Dr. Ralph Bühler von der Virginia Tech University: „Im Vergleich zu den USA hat die deutsche Verkehrspolitik bessere Voraussetzungen, um umweltfreundliche Verkehrsmittel noch stärker zu fördern“ findet Mitautor Bühler. „Zersiedelung, Autoabhängigkeit, jahrzehntelange Vernachlässigung alternativer Verkehrsmittel, und billiges Benzin sind große Hürden auf dem Weg zu mehr nachhaltigem Verkehr in den USA. Lokale Initiativen und die neue Regierung von Barack Obama lassen allerdings auf eine veränderte Verkehrspolitik in den USA hoffen.“

DIW-Experte Kunert fordert von der Verkehrspolitik in Deutschland, bei den Anstrengungen um einen umweltverträglichen Mix aus öffentlichem und privatem Verkehr nicht nachzulassen. „Trotz Klimadebatte, Hybridbegeisterung und CO2-Grenzwerten müssen wir uns vor Augen führen: Wir arbeiten weiter gegen den Trend, nicht mit dem Trend.“

Die Studie: Trends und Determinanten des Verkehrsverhaltens in den USA und in Deutschland

Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin, Dezember 2008 erstellt von Ralph Bühler, PhD., Rutgers State University of New Jersey, Bloustein School of Planning and Public Policy, derzeit: Virginia Tech, School of Public and International Affairs sowie Dr. Uwe Kunert, DIW Berlin, Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt.

Pressestelle
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
German Institute for Economic Research
Mohrenstraße 58
10117 Berlin
Tel. +49-30-897 89 249
Fax +49-30-897 89 119354615